Adventskonzert 2017

Henri de Rohan-Csermak

Was ich als ehemaliges Mitglied des Chors an zwei Abenden in Stuttgarter Kirchen sah und erlebte.

...ein souveränes Spiel auf drei Manualen
Das geschieht nicht alle Tage, dass man einen interessanten Franzosen kennenlernt. Ich hatte das Glück, einem berühmten Organisten aus Paris zu begegnen. Er heißt Henri de Rohan-Csermak. Am Freitag, 15. Dezember 2017 kam er mit dem TGV aus Paris. Ich wusste nur so viel, dass er für drei kurze Tage in Stuttgart sein werde. Ich hörte, dass er bei Emmi nächtigen werde, und später vernahm ich, dass er dort freien Zugang zum Haus und zum Kühlschrank hatte. Dermaßen gut vorbereitet, ging ich in die Friedenskirche, um den angekündigten Gast zu begrüßen. Ich wusste, dass er am nächsten Abend in der Friedenskirche ein Konzert geben wird. Mit Verspätung kam er am späten Nachmittag in Stuttgart an und saß schon um 19.30 Uhr auf der Orgelbank, um sich mit der Rensch-Orgel (Baujahr 1966) vertraut zu machen. Ich hatte die Aufgabe ihm beim Registrieren und Umblättern zu helfen. Souverän erkundete er die Orgel mit drei Manualen und wusste schnell, welche Register er für sein Programm brauchen konnte. Mit kleinen Zetteln markierte er die Stellen, bei denen ich als Registergehilfe tätig sein sollte. Um sein durchdachtes Programm fehlerfrei spielen zu können, gab er mir zu verstehen, dass ich nicht zu früh, aber auf keinen Fall zu spät umblättern dürfe. Staunend saß ich daneben, wie genial er die Trio-Sonate von Bach spielte. Seine Finger glitten über die Tasten und souverän bediente er alle drei Manuale. Das geschah manchmal mit überkreuzten Händen, weil er auf dem dritten Manual mit der linken Hand eine Stimme in den höheren Lagen hervorheben wollte, während die rechte Hand auf dem ersten Manual eine tiefere Begleitstimme spielte, und schon nach wenigen Takten waren die Hände wieder in einer entgegengesetzten Haltung. Professionell verstand er es, die Pedale in einer Leichtigkeit und Eleganz zu bedienen, was mich als kleiner Orgelspieler so faszinierte, dass ich manchmal das Umblättern zum richtigen Zeitpunkt verfehlte. Meine Entschuldigung nahm er mit einem freundlichen Lächeln zur Kenntnis, was ich so deutete, dass er mich nicht fristlos los sein wollte.

...ein erhöhter Hörgenuss
Am nächsten Tag, Samstag, 16. Dezember war auch Ute zum Konzert in der Friedenskirche gekommen, um beim Registrieren zu helfen. Beim Konzert hörte ich Walters Stimme unten im Kirchenschiff. Gekonnt verstand er es, die französischen Werke, die gespielt wurden, kurz zu erläutern und sie in ihren geschichtlichen und musikalischen Zusammenhang einzuordnen. Walter gab der kleinen, aber musikalisch interessierten Schar der Zuhörerinnen und Zuhörer den Rat, beim nächsten Stück die Augen zu schließen. Das erhöhe den Hörgenuss.
Ich dachte keineswegs daran die Augen zu schließen, sondern sah mit offenen Augen auf die Hände des Organisten. Bei der hervorragend leicht tänzerisch gespielten und extrem schwierigen Triosonate von Bach wusste ich, was ich längst ahnte: neben mir sitzt nicht Henri de Rohan-Csermak aus Paris, nein, da sitzt auch nicht der berühmte Titularorganist der großen Konzertorgel der Kirche Saint-Germain l’Auxerrois, da sitzt auch nicht ein berühmter Musikwissenschaftler und Orgelexperte, nein, da sitzt Johann Sebastian Bach selber. Wie in einem Traum, höre ich den alten Meister sagen: Gut gespielt, mein Junge. Mach weiter so. Dann entschwand er meinen Blicken. Ich sah nichts mehr von ihm, aber ich wusste: Er war da.

...wie die alte Dorfkirche sich füllte
Am Dritten Advents-Sonntag, 17. Dezember erlebte ich ein Benefizkonzert besonderer Art in der Evang. Martinskirche in Plieningen. Ich wusste, auf welchem geschichtsträchtigen Boden wir uns befinden. Denn am Standort der Martinskirche gab es schon im Jahr 600 n.Chr. eine Holzkirche, als in Mitteleuropa noch die Runenschrift in Gebrauch war. Nun sah ich mit staunenden Augen, wie sich die älteste Kirche in Stuttgart mit ihren zwei Emporen füllte. Bei dem Gedränge hatte ich das Gefühl als sei Heilig Abend. Aber warum kommen so viele Leute, fragte ich mich? Sie kommen, ohne genau zu wissen, was sie erwartet. Ich dagegen wusste, dass ich Auszüge aus dem Repertoire der kürzlich stattgefundenen Paris-Konzert-Reise hören werde, bei der Henri de Rohan-Csermak, den Chor begleitete. In Plieningen war er wieder dabei. Bei der Begleitung des Chors und bei seinem Orgel-Solo zauberte er aus der kleinen Weigle-Orgel (von 1968 ) Töne hervor, die mich staunen ließen. Walter nahm den Klassiker von Felix-Mendelssohn ins Programm auf, der vom Frauenchor gesungen wurde „Hebe deine Augen auf“. Eine Besucherin erzählte mir am nächsten Tag, für sie sei das der Höhepunkt des Abends gewesen. Etwa in der Mitte des Programms war eine Orgelmeditation zu hören. Henri de Rohan-Csermak spielte einen Advents-Choral von Bach. Ich war beeindruckt, wie man auf einer Orgel mit zwei Manualen den cantus firmus so fein und durchsichtig spielen kann. Das gelingt nur einem Künstler von Format.

... "Stille Nacht" mit silberhellen Stimmen
Ich wechselte den Platz, weil ich als Umblätterer nicht mehr von Henri de Rohan-Csermak, sondern von Alexander Quadt an seinem E-Piano gebraucht wurde. Alexander, das ehemalige Mitglied, jetzt Ehrenmitglied des Chors ist ein genialer Musiker, der mühelos weiterspielen kann, wenn ein Blatt sich weigerte, sich umdrehen zu lassen, weil es an einem befreundeten Blatt festklebte. Mir war das Missgeschick peinlich, aber der talentierte Pianist und Komponist Alexander spielte auswendig weiter, wie wenn nichts geschehen wäre. Offenbar kann er „Stella natalis“ auswendig spielen, wenn es denn sein muss.
Aber der Platz an seiner Seite bot mir einen genialen Blick auf die beiden Solistinnen Claudia und Elke, die bei Stella natalis von Jenkins die Soli sangen. Mit ihren warmen Stimmen füllten sie den Kirchenraum. Als ich von Eva die beiden herrlich gesungenen Solostücke von Vierne hörte (Tantum ergo und Ave Maria), bekam ich Geschmack nach mehr. Und schon bald hörte ich Eva, Madeleine und Raphaela „Noel“ von Gounod singen. Das waren helle, klare und leichte Stimmen, die mühelos auch das hohe a erreichten. Lampenfieber kennen die jungen Damen offenbar noch nicht. Dann musste ich zweimal hinschauen, um zu begreifen, dass auf der hohen Kanzel nicht Pfarrer Ziehmann steht, sondern die beiden Chormitglieder Eva und Madeleine. Mit ihren silberhellen Stimmen erklingt das Weihnachtslied „Stille Nacht“ berührend schön. Ganz vorne im Schiff sah ich ein Taschentuch in der Hand einer nicht mehr ganz jung gebliebenen Frau. Ich wollte nicht aufdringlich hinschauen, und so konnte ich auch nicht genau sehen, ob das Taschentuch an die Nase oder an die feucht gewordenen Augen geführt wurde. Auch ich als alt gewordener Knabe spürte einen Schauer auf dem Rücken, als der Chor bei den weiteren Strophen mit einstimmte. Ja, ich gesteh es, ich war emotional bewegt. Immer wieder habe ich mir überlegt, warum so viele zu dem Benefizkonzert  gekommen waren. Ich erklärte es mir damit, dass zwei Namen den Ausschlag gaben: Frau Neth und Walter Pfohl.

...ein festliches Konzert bietet Nährboden für festliche Spenden
Frau Neth ist verantwortlich für die Aktion „Hilfe für den Nachbarn“ der Stuttgarter Zeitung. Der Chor der Universität Hohenheim war bereit, die Aktion mit einem Benefizkonzert zu unterstützen. Ein Festliches Konzert zum Dritten Advent bot den Nährboden für großzügige und festliche Spenden. Sie sind für Menschen bestimmt, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.
Wenn Walter Pfohl auf einem Einladungsplakat steht, dann wissen viele Musikliebhaber in der Region, dass sich der Besuch lohnt. Ich habe als langjähriges Mitglied des Chors den Chorleiter in den Proben und bei Konzerten immer nur in einiger Entfernung gesehen. Auf dem Platz neben Alexander konnte ich Walter aus aller nächsten Nähe erleben. Nichts überließ er dem Zufall. Schon wie er den Chor durch den Mittelgang der Kirche einziehen ließ, wie die Chormappe zur Publikumsseite getragen und wie auf seinen Wink hin die Mappe unisono geöffnet wird, das war einfach gekonnt.  Diese Kleinigkeiten zeigen, wie sorgfältig alles bei dem Benefizkonzert durchdacht und von ihm vorbereitet wird. Meisterhaft wird das Programm von ihm so gestaltet, dass es von der deutsch-französischen Gegenüberstellung lebt. Musikalisch kommt das Gegenüber von Ausschnitten aus der „Messe solennelle: Kyrie-Gloria“ von Louis Vierne und mit Ausschnitten aus der „Messe f-moll: Sanctus-Benedictus-Agnus“ von Josef Gabriel Rheinberger zum Ausdruck. Bei Walter werden Chorstücke nicht wahllos aneinander gereiht. So achtet er im Benefizkonzert bei der Auswahl auf die Spannung, die vom Tod Jesu bis hin zur Geburt des Kindes reicht. Walter weiß, wie man einen Chor mitreißen kann, und wie man ein Publikum in eine kalte Nacht und unsichere Zukunft entlassen kann. So setzt Walter ganz bewusst das Abendlied von Rheinberger an den Schluss eines auch für mich bewegenden Konzerts, das mit der Bitte endet: „Herr, bleibe bei uns“.                        Gerhard R.